Neulich saß ich an einem Sonntagmorgen gemütlich mit Mann und Sohn am Frühstückstisch. Das kommt selten vor, da ich oft an Wochenenden unterwegs bin – umso mehr genieße ich den freien Morgen. Wir unterhalten uns und überlegen, was wir heute so unternehmen könnten. „Ich schau mal, wie das Wetter ist“, sagt mein Partner und holt sein Smartphone hervor. „Ok“ sage ich, „dann hole ich mir solange noch einen Kaffee.“ Der Weg zur Küche führt durch den Flur. Dort liegt mein Smartphone. Ach, ich schau mal eben, wie spät es ist, denke ich, und schon sehe ich dieses trügerische Zeichen auf dem Telefon: eine neue WhatsApp! Dopamin befeuert mein Hirn. Es könnte etwas Wichtiges sein, denke ich, vielleicht wegen des Kurses morgen? Ich nehme mein Smartphone mit zum Tisch und schaue drauf. Der Kaffee ist plötzlich vergessen. „Darf ich einen Film gucken?“ fragt mein Sohn, sobald er dieses Gerät sieht. „Bitte, nur ganz kurz!“ PAFF, voll ertappt! Warum sitzen wir plötzlich alle mit dem Smartphone da? Warum dreht sich alles nun nur noch um dieses kleine Gerät?
War früher alles besser?
Ich würde in solchen Momenten am liebsten die Zeit anhalten und zurück drehen. Zurück zu den Zeiten, in denen ich in der S-Bahn und auf Reisen noch ein Buch gelesen habe. In denen ich Kindern (damals noch als Babysitterin) auf dem Spielplatz einfach nur beim Spielen zugeschaut habe – ja, mich vielleicht sogar ein bisschen gelangweilt habe. Aber mit voller Aufmerksamkeit da war, und nicht bei Facebook, WhatsApp oder Instagram. Zurück zu der Zeit, wo ich mit meiner ersten Liebe verliebt am Strand gesessen habe – ohne sofort zu überlegen, welches Bild wir jetzt posten, um allen zu zeigen, wie glücklich wir sind. Zeiten, in denen mein Sohn nicht sagen würde „Mama, gib das mal eben in Google ein“, sondern wir gemeinsam erwartungsvoll einen Duden aufschlagen würden, so wie mein Opa es früher mit uns gemacht hat. Oder wir sogar zusammen in die Stadtbibliothek fahren, um etwas über ein Thema herauszufinden. Eine Zeit, in der ich mit Freunden in der Kneipe zusammen gesessen habe, ohne gleich Videos und Bilder vom Haustier, den Kindern, dem letzten Urlaub oder der letzten Mahlzeit aufgedrückt zu bekommen. Oder ich selbst reflexartig mein Smartphone zücke, um Bilder von meinem Sohn oder sonstigen Erlebnissen zu zeigen.
Zeit – jeder will sie, keiner hat sie
Aber wir können die Zeit nicht zurück drehen. Und das ist letztlich auch gut so. Wir alle kennen die Vorteile der neuen Technologien. Vieles ist praktischer und bequemer geworden, das ganze Wissen der Welt steht uns innerhalb von Sekunden zur Verfügung. Doch eines hat sich durch die Digitalisierung nicht geändert, so zumindest der Eindruck: Wir haben nicht mehr Zeit gewonnen. Wie kann das sein? Und wo soll das noch hinführen? Warum haben wir alle das Gefühl, dass wir nur noch der Zeit hinterher hetzen?
Offenbar reißt die Beschleunigung fast jeden von uns mit, der nicht zurückgezogen in der Almhütte oder im brasilianischen Urwald lebt. Das Wissen der Menschheit hat sich innerhalb von kürzester Zeit vervielfacht, das Tempo auch. Wir Menschen passen uns daran an, kaum einer kann sich dem entziehen, selbst wenn er möchte. Studien zeigen, dass Menschen, die nicht ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt oder gefordert sind, über kurz oder lang in Langeweile und Resignation verfallen. Menschen, die erst unter Zeitdruck eine Aufgabe lösen mussten, langweilen sich, wenn sie später dafür mehr Zeit haben. Nicht ohne Grund entwickeln Menschen, die dauerhaft unter dem Label „Hartz IV“ aussortiert werden und sich nicht gebraucht fühlen, Lethargie bis hin zur Depression. Es liegt in unserer Natur, dass wir gefordert sein wollen, uns weiter entwickeln und wachsen wollen.
Ich glaube sogar, dass es der Sinn unseres Lebens ist, die eigene Lebensaufgabe zu entdecken und diese umzusetzen. Mit anderen Worten: unser vollkommenes Potenzial zu leben. Doch geht das nicht auch, ohne dass wir uns ständig gehetzt und getrieben fühlen angesichts all der Aufgaben, Nachrichten und Verpflichtungen, die auf uns einprasseln? Wie können wir es hinkriegen, mal runterzufahren und uns auf die wesentlichen Dinge zu fokussieren?
Vielleicht können und wollen wir auf unsere technologischen Errungenschaften nicht verzichten. Aber wir können beginnen, damit bewusster umzugehen. Denn wie sollen wir unseren Kindern das Spielen mit dem Smart Phone untersagen, wenn wir selbst es ständig vormachen? Übrigens: Im Silicon Valley achten die meisten Eltern sehr streng darauf, dass ihr Nachwuchs möglichst wenig Zeit mit Smartphones, Tablets und Computern verbringt. Das sollte einem zu denken geben.
Gefragt oder gelangweilt?
Neben dem „digitalen Wahnsinn“ gibt es natürlich noch weitere Ursachen dafür, dass viele von uns sich so gestresst und getrieben fühlen: nicht nein sagen können, Leistungsdruck, Perfektionismus oder die Befürchtung, nicht mehr mitzukommen oder nicht gemocht zu werden. Hinzu kommen Angst vor Langeweile oder Leere. Kennst du das Phänomen, dass Termine sich wundersamerweise sofort wieder auffüllen, sobald einer frei wird? Die Leere lässt sich heutzutage so leicht stopfen und verdrängen – egal ob durch Freizeitstress, Smartphone, TV oder Tablet. Auch viel arbeiten ist eine effektive Möglichkeit, sich selbst und der Begegnung mit dem Inneren aus dem Weg zu gehen.
Mir selbst wurde das schmerzlich bewusst, als ein Freund zu mir sagte „du hast ja anscheinend nie Zeit.“ Ja, da ist was dran. Von meinem Ausbilder – Dieter Hörner – habe ich damals den Gedanken mitgenommen: „Zeit ist Existenz.“ Das führt zu der Frage: Welche Existenz gestehen wir uns selbst, unserem Leben zu? Wenn wir dieser Frage nachgehen, dann geht es nicht mehr um Zeitmanagement oder Zeitersparnis durch irgendwelche technischen Innovationen. Dann geht es um die Frage: Was ist wirklich wichtig im Leben?
Jeder von uns könnte morgen einen Unfall haben und monatelang im Krankenhaus liegen. Die Erde würde sich weiter drehen. Keiner von uns ist unersetzbar, auch wenn wir das manchmal denken. Keiner von uns weiß, wie lange er oder sie noch lebt. Alle reden davon, man müsse die Zeit optimal nutzen, den Tag genießen, aus jedem Augenblick das Beste rausholen. Aber setzt uns das nicht auch wieder unter Druck? Muss Zeit immer effektiv genutzt werden, oder darf sie auch mal so dahin plätschern?
Was ist wirklich wichtig?
Ich denke, dass die größte Herausforderung „unserer Zeit“ darin liegt, uns noch konsequenter auf unsere eigenen Werte und Prioritäten zu besinnen. Wenn wir selbst Klarheit darüber haben, was uns wichtig ist im Leben, dann finden wir auch den Mut, dafür einzustehen. Dann geht es nicht mehr darum, was die anderen von uns denken oder ob jeder uns mag, sondern darum, dass wir selbst glücklich sind. Und das heißt auch, mit dem Unperfekten glücklich zu sein. Einfach nur zu SEIN, ohne ständig etwas tun oder darstellen zu müssen. Die eigenen Prioritäten zu kennen und zu diesen zu stehen, ohne es allen recht machen zu wollen.
Wie wir das umsetzen, liegt in unserer Hand. Wir selbst können uns dafür entscheiden, einfach mal mit dem Kind – oder auch alleine – in die Bibliothek zu gehen. Wir selbst können beim Essen oder beim Treff mit Freunden das Smartphone ausgeschaltet lassen. Mal wieder ein Buch aus Papier lesen oder eine Postkarte an jemanden schreiben. Und beim Frühstückstisch am Sonntagmorgen mal nicht auf das Smartphone, sondern einfach aus dem Fenster schauen, wie das Wetter ist.
Fragen für die Woche
- Was ist dir wirklich wichtig im Leben?
- Was möchtest du mal eine Zeit lang bleiben lassen, was dir unnötig Zeit raubt?
- Womit möchtest du wieder mehr Zeit verbringen?
Glücksanregungen für die Woche
- Lasse mal einen Tag lang dein Smartphone aus
- Schreibe einen Brief oder eine Postkarte an einen Menschen, bei dem du dich länger nicht gemeldet hast
Tipps
Buchtipp: „Das Leben ist keine ToDo-Liste“ von Shirley Seul
Filmtipp: arte-Reportage „Speed. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, anzusehen auf youtube …
Podcast-Tipp: Veit Lindau mit dem Vortrag „Mensch 4.0“, auf youtube…
Zitate
„Jetzt sind die guten alten Zeiten, nach denen wir uns in zehn Jahren zurücksehnen.“ Peter Ustinov
„Ihre Zeit ist begrenzt, also verschwenden Sie sie nicht damit, das Leben eines anderen zu leben. Lassen Sie sich nicht von Dogmen in die Falle locken. Lassen Sie nicht zu, dass die Meinungen anderer Ihre innere Stimme ersticken. Am wichtigsten ist es, dass Sie den Mut haben, Ihrem Herzen und Ihrer Intuition zu folgen. Alles andere ist nebensächlich.“ Steve Jobs
Dir ganz lieben Dank für deine Worte!
Ein toller Newsletter
Besonders die Ideen zur „Selbtshilfe“ (Fragen), und zur Inspiration
(Podcasts, Videos) fand ich toll.
Weiter so!
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Liebe Heidelore, das nenne ich konsequent. Gezielter konsumieren statt wahllos herumzappen, das macht schonmal einen Riesenunterschied. Ich freue mich ebenfalls darauf, wertvolle Zeit mit dir zu verbringen.
Liebe Angela, ich danke dir für deine neuen Anregungen. Ich habe als Kind bewusst erlebt, wie Fernsehen neu und spannend war. Es war wichtig und füllte einen Teil meiner Zeit. Seit einigen Jahren habe ich Fernsehen komplett aus meinem Leben verbannt. Ich betrachte es als verlorene Lebenszeit.
Mit dieser Erfahrung prüfe ich für mich, wie umfangreich ich die aktuellen Medien nutze. Gern zum Dialog – gezielt zum Konsumieren. Daher bleibt mir Zeit für das, was ich gern tue, zum Beispiel Malen.
Ich freue mich auf die wertvolle Zeit in deinem Happiness-Training 🙂
Heidelore