Stell dir vor, du sitzt im ICE auf dem Weg zu einem wichtigen Termin. Dann hält der Zug mitten in der Walachei an und es kommt eine Durchsage: „20 Minuten Verspätung wegen unvorhergesehener Bauarbeiten.“ Aus den 20 Minuten werden 40 Minuten, dann eine Stunde. Du wirst langsam nervös… und nervöser… kommt dir das bekannt vor?

So ist es mir neulich ergangen auf dem Weg zu einem Workshop, zu dem ich unbedingt pünktlich sein musste. Die Verspätung wurde immer länger und ich mit jeder Durchsage nervöser. Klar hatte ich genügend Puffer eingeplant, aber ich wusste aus Erfahrung, dass bei der Bahn so manches passieren konnte (wobei ich mich eh fragte, wie Bauarbeiten „unerwartet“ auftreten konnten, wenn nicht gerade ein Hurricane durch das Land wehte – oder Schneesturm – oder Wüstensand – na gut…). Irgendwann fuhr der ICE zum Glück weiter, und ich kam gerade noch rechtzeitig zum Workshop. Ähnliches trug sich auf der Rückfahrt zu. Wieder begann die Verspätung erst mit nur 20 Minuten (machen die das absichtlich, um den „Ärgerpegel“ bei den Leuten niedrig zu halten?), am Ende kam ich wieder eine ganze Stunde später an als geplant. In dem Fall war ich jedoch relativ entspannt, denn ich wusste ja, dass kein wichtiger Termin mehr anstand. Ob ich nun eine Stunde später zu Hause ankam, war nicht ganz so entscheidend. Die fast gleiche Situation hatte also ein sehr unterschiedliches Potenzial dazu, mich aus meiner Gelassenheit zu bringen.

Gelassen bleiben lohnt sich

Warum können über manche Dinge easy peasy hinwegsehen, während uns andere Situationen auf die Palme bringen? Warum bleiben in ein- und derselben Situation die einen ruhig und andere rasten aus? Und müssen wir überhaupt immer gelassen bleiben? Ist es nicht manchmal sogar gut, den Ärger „rauszulassen“, statt runterzuschlucken? Warum bestimmte Situationen uns „triggern“, kann viele Gründe haben. Vielleicht wurden unsere Werte verletzt, vielleicht hat jemand uns provoziert, vielleicht fühlen wir uns hilflos den Umständen ausgeliefert. Manchmal geschehen auch Dinge, die braucht kein Mensch. Diesen Blogartikel zum Beispiel hatte ich gerade fertig geschrieben, in einer Spätschicht. Als ich am nächsten Morgen die Datei wieder öffnen wollte, da war sie weg. Einfach weg! Der Name der Datei sprang mir zwar entgegen unter „zuletzt verwendet“, aber ich konnte nicht darauf zugreifen. Jeder Wiederherstellungsversuch war vergeblich. Welch eine Ironie, dass mir dies gerade beim Blogartikel zum Thema „Gelassenheit“ passiert! Ich hätte hochgehen können, schreien, toben, stampfen. Aber was nützt es – dadurch taucht die Datei auch nicht wieder auf.

Und irgendwo tief in mir drin wusste ich: Es lohnt sich, gelassen zu bleiben. Der Schaden ist oft größer, wenn wir uns von unseren Emotionen davon tragen lassen, als wenn wir besonnen und lösungsorientiert bleiben. Intuitiv handeln ist gut – impulsiv nicht (siehe auch Artikel zu „Emotionale Intelligenz„). Was ist der Unterschied? Intuitiv handeln bedeutet, kurz innezuhalten, auf die „innere Stimme“ zu hören, vielleicht auch die Perspektive zu wechseln und dann von Herzen her zu agieren. Impulsiv sind wir dann, wenn wir unsere Emotionen – egal welcher Art – nicht mehr unter Kontrolle haben und diese womöglich auf eher nicht konstruktive Weise zum Ausdruck bringen.

Die Vorteile von Gelassenheit

  • Gelassene Menschen haben mehr Handlungsspielraum und sind sich immer dessen bewusst, dass sie einer Situation nicht hilflos ausgeliefert sind (siehe auch Blogartikel zu Selbstwirksamkeit…)
  • Sie sind empathischer und haben deshalb auch bessere Beziehungen – wer will schon Menschen um sich haben, die bei jeder Kleinigkeit hochgehen?
  • Gelassene Menschen sind optimistischer und glauben daran, dass es immer eine optimale Lösung geben wird.
  • Gelassene Menschen können auch in brenzligen Situationen ruhig bleiben und lösungsorientiert handeln. Sie sind dementsprechend auch leistungsfähiger.

Kurzum: gelassene Menschen sind glücklicher und erfolgreicher!

Die Bewertung ist entscheidend

Doch warum sind manche Menschen wie ein Fels in der Brandung und andere wie ein brodelnder Vulkan, der jederzeit ausbrechen könnte? Ist das Veranlagung – oder einfach Glückssache? Und: Können wir etwas für unsere Gelassenheit tun? Die gute Nachricht: die Frage, ob wir etwas gelassen sehen können oder nicht, hängt gar nicht so sehr von der Situation selbst ab. Sondern eher davon, wie wir diese bewerten (siehe auch Blogartikel zum Thema „Mindset“). Denn alles – jede Kleinigkeit, jedes Ereignis, das wir erfahren und erleben – durchläuft in unserem Gehirn einen Einordnungs- und Bewertungsprozess. Der amerikanische Emotionspsychologe und bekannte Stressforscher Richard Lazarus hat aufgrund zahlreicher Studien festgestellt, dass Menschen ein- und dieselbe Stress-Situation sehr unterschiedlich bewertet haben. Er hat auf der Basis all dieser Erkenntnisse das „transaktionale Stressmodell“ entwickelt. Dieses hilft uns verstehen, warum und wann bestimmte Situationen uns „triggern“ und an welchen Stellen wir etwas verändern können.

Du fühlst dich getriggert? Das passiert im Gehirn

Alles beginnt mit der Wahrnehmung einer bestimmten Situation durch unsere Sinnesreize. Jede Sekunde prasseln unendlich viele davon auf unser Gehirn ein – 11 Millionen Bits, heißt es. Das Gehirn nimmt jedoch nur einen Bruchteil davon bewusst auf – nämlich nur 40 Bits. Das ist auch gut so, denn sonst würden wir aufgrund von kontinuierlicher Informationsüberflutung schier verrückt werden. Um bei dem Beispiel Bahndurchsage zu bleiben: Ich höre die Durchsage, nehme die Inhalte wahr und es beginnt im Gehirn zu arbeiten. Alle anderen Reize sind in dem Moment ausgeblendet: der Regenschauer draußen, der Lebewurstbrotgeruch am Tisch gegenüber, das Geschrei eines Babys weiter hinten oder das Streitgespräch des Mannes, der vor mir sitzt, am Telefon.

Primäre Bewertung

Nun entscheidet das Gehirn, ob die Situation eine ernsthafte Bedrohung oder Gefahr darstellt oder nicht. Lazarus nennt es „primäre Bewertung“. Ist das hier gerade lebensgefährlich? Oder gar nicht relevant? Vielleicht sogar positiv zu bewerten? So ist eine verspätete Bahn zwar erstmal Stressfaktor. Aber wenn ich mit einer Gruppe netter Menschen zu einem Ausflug unterwegs bin und wir an der Fahrt an sich schon Spaß haben, wäre es vielleicht etwas anderes. Nur wenn mich das Ganze nervös macht, springen die Alarmsysteme im Gehirn auf die nächste Stufe, nämlich die „sekundäre Bewertung“ nach Lazarus.

Sekundäre Bewertung

Selbst wenn die Situation nun also brisant ist, bedeutet das noch lange nicht, dass die Gelassenheit dahin ist. Dann rattert das Gehirn weiter und überprüft: habe ich die Ressourcen, um die Situation zu managen? Habe ich möglicherweise schon einmal ähnliche Dinge gut gemeistert? Ist das, was passiert, wirklich bedrohlich oder komme ich damit klar? In meinem ICE-Beispiel wäre es vielleicht die Frage: kann ich damit leben, wenn ich den Workshop aufgrund er Verspätung absagen muss? Wenn dies vom Gehirn als Bedrohung eingeordnet wird, dann werden Alarmsignale an den Körper gesendet und der Stressmechanismus in Gang gesetzt. Schweiß bricht aus, der Herzschlag wird schneller, der ganze Körper wird aktiviert, um schnell zu reagieren auf – ja, was? Kampf gegen den Schaffner? Flucht aus dem Fenster? Kaum möglich! Also entweder den Schaffner anschreien (auch nicht empfehlenswert) oder sich wieder beruhigen.

Bewältigung

Hier ist die Frage: schlucke ich den Ärger runter, damit er in mir weiterköchelt? Oder finde ich gute Möglichkeiten, um Emotionen rauszulassen und verlorene Energie wieder aufzuladen? Dies nennt man dann in der Stressforschung „Coping-Strategie“ (siehe auch Blogartikel zum Thema „Resilienz“). Also die Frage, wie gut wir solche „Trigger-Situationen“ meistern. Wenn alles hier gut läuft, dann speichert mein Gehirn die Situation als „gut gemeistert“, eine Neubewertung findet statt, und so kann ich auch in künftigen ähnlichen Situationen gelassen bleiben. Komme ich jedoch nicht mit alldem klar, wird ein „Stress-Kreislauf“ in Gang gesetzt. Der wiederholte Stress sammelt sich an, der Körper ist nicht imstande, diesen aufzufangen und das Gehirn setzt eine Warnung nach der anderen ab. Auf Dauer endet das in körperlichen oder mentalen Stress-Symptomen und im schlimmsten Falle in psychischen Krankheiten.

Neun Anregungen, um gelassen zu bleiben

Wie können wir also auch dann gelassen bleiben, wenn vermeintlich alles schief läuft? Oder wenn ein Mitmensch uns triggert, provoziert oder mit seinem Verhalten verletzt? Wichtig ist zunächst die Erkenntnis: du bist einer Situation oder einem Menschen nie hilflos ausgeliefert. Wir können immer selbstbestimmt handeln und reagieren. Sich dies immer wieder bewusst zu machen, ist der erste Schritt zu mehr Gelassenheit. Weiterhin möchte ich hier noch ein paar weitere Anregungen mit dir teilen, um gelassener zu bleiben und auch zu werden. Denn du kannst auf verschiedenen Ebenen agieren und reagieren, wenn ein Ereignis droht, dich auf die Palme zu bringen.

Was tun bei akutem Trigger-Alarm? Mögliche Sofortmaßnahmen

1. Durchatmen – der Zug hat Verspätung? Du stehst im Stau? Dein Kind ist bockig? Einmal tief ein- und ausatmen kann Wunder bewirken. Wenn dein Herz rast, dann kannst du dies willentlich nicht stoppen. Aber mit entsprechenden Atemübungen kannst du dein gesamtes System beruhigen und wieder eine gute Basis finden, um die Kontrolle zu behalten und wieder handlungsfähig zu werden (siehe auch „Wunderwerkzeug Atem„).

2. Schweigen – dein Kollege hat immer wieder eine kleine Spitze für dich parat oder trifft deine verbale Schwachstelle? In solchen Fällen lohnt es sich meist nicht, darauf einzugehen. Tu ihm nicht den Gefallen, dich auch noch zu ärgern oder runterziehen zu lassen, sondern schütze dich lieber vor negativer Energie. Manchmal ist auch die Kombi mit einem Rückzug hilfreich.

3. Analysieren – halte kurz inne und frage dich: ist die Situation wirklich so schlimm wie es gerade scheint? Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte und könnte ich irgendwie damit klar kommen? Diese Frage relativiert meist so einiges. Denn zumindest die Überlebenschance ist meist recht hoch.

Nachhaltig agieren – vorbeugende Strategien

Doch neben diesen Sofort-Reaktionsmöglichkeiten ist eine gewisse Grund-Gelassenheit durchaus empfehlenswert. Diese kannst du zum Beispiel durch folgende Maßnahmen trainieren:

4. Entspannungstechniken – egal, ob eine geführte Meditation (hier findest du verschiedene Meditationen), autogenes Training oder Yoga – alles, was uns in die Entspannung bringt, erhöht die Grundgelassenheit und hilft uns, nicht mehr so schnell in Rage zu geraten.

5. Bewegung – Bewegung ist nicht nur körperlich gesund, sondern erhöht auch die Stimmung. Und sie ist das beste Ventil, um aufgestauten Stress abzubauen und Emotionen rauszulassen. Durch Sport oder Bewegung aktivierst du zunächst das sympathische Nervensystem und bringst den Körper in (positiven) Stress. Danach wird automatisch das parasympathische Nervensystem in Gang gesetzt und somit die Erholung aktiviert.

6. Lachyoga – Lachen ist gesund und senkt Stresshormone. Zudem können viele Übungen aus dem Lachyoga uns konkret dabei unterstützen, bestimmte „Trigger-Situationen“ nicht so ernst zu nehmen und den Ärger lachend loszulassen. Humor und Lachen – der beste Weg, um gelassen zu bleiben. Angebote, siehe hier…

Doch wie Richard Lazarus schon festgestellt hat: die Bewertung ist entscheidend. Wie können wir also unsere innere Einstellung verändern, um nicht so leicht aus der Fassung zu geraten, wenn etwas nicht so läuft, wie wir es uns vorstellen? Hier ein paar Strategien.

Innere Einstellung verändern – kognitive Tricks

7. Akzeptanz – Manchmal hilft nur eines, wenn die Situation ausweglos erscheint: Das, was ist, annehmen. Die Verspätung der Bahn kann ich nicht aufhalten, den Stau nicht wegzaubern. Auch meine Mitmenschen werden sich nicht ändern, nur weil ich das von ihnen erwarte. Also kann ich mir überlegen, ob ich mir das Leben zusätzlich schwer mache, indem ich mich ärgere, oder es eben erstmal annehme. Wenn bestimmte Menschen mir Energie rauben oder mir auf Dauer nicht gut tun, habe ich ja dann zumindest noch die Möglichkeit, Abstand zu nehmen (siehe „Umgang mit Deppen“ etc…).

8. Dankbarkeit – So unangenehm eine Situation auch sein mag – meist gibt es trotz allem immer einen Anlass, dankbar zu sein. Deine Chefin macht dir Druck, dass etwas noch bis Morgen fertig werden muss? Das mag nerven, aber immerhin scheinst du deinen Job gut zu machen, sonst würde sie dich nicht fragen. Und – du hast einen Job! Auch das kann so manches wieder relativieren. Siehe auch Blog zu Dankbarkeit…

9. Perspektive wechseln – Gerade wenn andere Personen im Spiel sind, kann es hilfreich sein, sich zu fragen, ob der andere wirklich eine böse Absicht hatte oder vielleicht einfach nicht nachgedacht hat. Vielleicht gibt es auch eine bestimmte Vorgeschichte genau mit diesem Menschen, und nur deshalb gehst du direkt hoch bei Anlässen, die dich vielleicht bei jemand anders gar nicht stören würden. Spannend wird es auch dann, wenn wir uns klar machen – das, was mich bei der anderen Person triggert, hat immer auch mit mir zu tun. In dem Fall ist diese mein perfekter „Arschengel“.

Eines ist klar: Gelassenheit ist nicht die Herausforderung, wenn alles gut läuft. Sondern dann, wenn alles schief geht. Ich muss gestehen, dass ich in meinen Beispielen nicht immer die Gelassenheit in Person war – weder bei der Zugverspätung noch, als dieser Blogartikel einfach im Nirvana meines Computers verschwunden war. Ich habe mich tierisch geärgert, mich aufgeregt und war gefrustet. Doch was hilft es – irgendwann habe ich die Lage akzeptiert und diesen Text einfach neu geschrieben. Wenn du bis hier gelesen hast, dann bin ich dir sehr dankbar. Ich atme tief durch, lache drüber und habe für das nächste Mal gelernt.

Gebet für Gelassenheit

Von Reinhold Niebuhr, amerikanischer Theologe

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

 

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  1. […] wir lernen, auch unter „widrigen Umständen“ gelassen zu bleiben (siehe Blogartikel zu Gelassenheit), dann stärkt dies unsere mentale Kraft und wir schaffen es leichter, uns nicht unterkriegen zu […]

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